Rechtssubjekt Mensch versus Rechtssubjekt Natur
Was wiegt mehr? Die Interessen der Landwirte oder das Interesse der Natur? Dieser Kampf der Interessenlagen lässt sich besonders gut am Beispiel der Lagune Mar Menor im Süden Spaniens aufzeigen. Im Jahr 2019 kam es dort erstmalig zu einem großen Desaster. Die Lagune kippte, was ein massives Artensterben zur Folge hatte, wodurch auch der umgebene Tourismus, durch tote Fische an den Stränden und übelriechende Algen im Wasser, stark beeinträchtigt wurde.
Das Mar Menor: Ein einzigartiges Ökosystem
Das Mar Menor ist mit einer Fläche von 135 km² und einer maximalen Tiefe von sieben Metern die größte Lagune des westlichen Mittelmeers. Durch die Abgrenzung zum Meer, ist die Lagune eigentlich nährstoffarm, mit einem stetig variierenden Salzgehalt, wodurch nur speziell angepasste Lebewesen dort heimisch sind bzw. waren. Diese Spezialisierung der Biodiversität macht das Mar Menor besonders anfällig gegenüber schneller Umweltveränderungen.
Ein Ökosystem wird »Rechtsperson«
Nachdem bereits unzählige Male unter dem Slogan »SOS MarMenor« versucht wurde die Lagune vor menschlichen Einflüssen besser zu schützen, indem sie unteranderem zum Ramsar-Gebiet und zum besonderen Schutzgebiet im Natura-2000-Netz erklärt wurde1, kam im Jahr 2019 erstmals der Vorschlag zu Tage, dem Mar Menor einen Personenstatus zu verleihen. Dieser wurde der Regionalversammlung der Autonomen Gemeinschaft Murcia vorgelegt, scheiterte dort jedoch an Unverständnis und nicht ausreichenden (juristischen) Mitteln für die Durchsetzung.2
Die Absicht wurde deshalb jedoch nicht verworfen. Im Juli 2020 wurde eine legislative Volksinitiative (PLI) initiiert, für welche 500.000 Unterschriften notwendig waren, damit die Regierung dieser Gehör schenken muss. Anstatt der notwendigen 500.000 wurden insgesamt 639.824 Unterschriften gesammelt.2 Daraufhin musste die Regierung handeln! Am 30. September 2021 wurde vom spanischen Parlament das Gesetz „19/2022 vom 30. September über die Anerkennung der Rechtspersönlichkeit der Lagune Mar Menor und ihres Einzugsgebietes“ verabschiedet, welches im Oktober 2021 in Kraft trat.Durch die Verabschiedung des Gesetzes wurde die Lagune Europas erstes Ökosystem mit »Personenstatus«. D.h. dass Sie im juristischen Sinne nichtmehr als Rechtsobjekt, sondern als Rechtssubjekt zu betrachten ist.
Somit erhielt das Mar Menor grundsätzlich das Recht auf Schutz, Erhaltung, Pflege und gegebenenfalls auf Wiederherstellung. Auch sein Recht sich zu entwickeln und zu existieren, wurde mit dem Gesetz anerkannt. Diese Rechte müssen von der Regierung und den Küstenbewohnern wahrgenommen werden (Artikel 2). Jedes Verhalten, welches gegen diese Rechte verstößt wird verfolgt und geahndet (Artikel 4). Durch die Rechtssubjektstellung ist jede natürliche oder juristische Person bei Betroffenheit berechtigt, das Ökosystem des Mar Menor zu verteidigen und kann, durch eine Klage in dessen Namen, dessen Rechte durchsetzen (Artikel 6).3
Das Mar Menor unter Druck: Agrarwirtschaft und ihre Folgen
Die Lagune Mar Menor ist direkt vom Klimawandel betroffen. Durch die steigenden Temperaturen heizt sich die Lagune immer stärker auf, was die Lebensbedingungen des sensiblen Ökosystem stark beeinträchtigt. Jedoch ist der Klimawandel nicht der einzige Grund, warum das ca. 18.900 Fußballfelder große Mar Menor kippte. Ein besonders problematischer Bereich ist die intensive Landwirtschaft und Massentierhaltung in der Region Murcia, zu der das Mar Menor gehört.
Die massive Stickstoffbelastung der Lagune ist das Ergebnis dieser Kombination aus intensivem Ackerbau und immer weiter anwachsender Schweinehaltung in Spanien. Im Jahr 2020 wurden über 56 Millionen Schweine geschlachtet, was 3 Millionen mehr Tiere waren als im Vorjahr und bedeutet, dass jedes Jahr insgesamt mehr Schweine geschlachtet werden, als Menschen in Spanien leben. Rund 55% der fünf Millionen Tonnen Schweinefleisch, die in Spanien jährlich produziert werden, gehen in den Export. Eine Folge der zunehmenden Industrialisierung der Landwirtschaft, mit Dominanz von Großkonzernen und Aussterben kleinbäuerlicher Strukturen, die auf ihre Lebensgrundlade von Grund und Boden mehr achten.
Im Einzugsgebiet des Mar Menor gibt es mindestens 450 Schweinefarmen. Zu viele für die Lagune! Drohnenaufnahmen und Satellitenbilder haben gezeigt, dass Schweinegülle häufig aus den Güllebecken ausläuft oder einfach in großen Löchern im Boden, ohne Versiegelung, gelagert wird. Untersuchungen von 10% der Güllegruben ergaben, dass etwa 90% der Anlagen nicht den Vorschriften entsprechen. Der organische Nitratdünger wird auf den extrem trockenen Feldern ausgebracht, was insbesondere bei starken Regenfällen in dieser verkarsteten Region problematisch ist, da die Nitrate dann ausgeschwemmt und in die Lagune verbracht werden. Etwa 3 Tonnen Nitrat gelangen so täglich in das Mar Menor.
Ein Bericht des spanischen Umweltministeriums aus dem Jahr 2019 schätzt, dass die Schweinefarmen für etwa 17% der Stickstoffbelastung im Grundwasser des Mar Menors verantwortlich sind. Diese Nitratbelastung, und die chemische Eutrophierung der mageren Böden, führte zu erheblichen ökologischen Schäden, bis zum vollständigen Umkippen der Lagune im Jahre 2019. Fischsterben und Algenblüten in der Lagune waren die sichtbare Tragödie einer entarteten industrialisierten Landwirtschaft.
Trotz dieser alarmierenden Situation zeigen die zuständigen Behörden wenig Bereitschaft, gegen die expandierende Schweineindustrie vorzugehen. Dies verdeutlicht, dass die Rechte der Natur bis heute hinter wirtschaftlichen Interessen zurückstehen müssen.
Politische und gesellschaftliche Konflikte: Ein verschwiegenes Problem
Das Gesetz zum Schutz des Mar Menors, welches die Lagune als Rechtsperson anerkennt, sollte eigentlich von allen als bedeutender Schritt im Naturschutz gefeiert werden. Doch es stößt auch auf erheblichen Widerstand, insbesondere von der rechtspopulistischen Vox-Partei, die das Gesetz als Verstoß gegen die Grundrechte, das Recht auf Privateigentum und das Recht auf Berufsfreiheit, sieht. Die Partei argumentiert, dass die Regelungen die landwirtschaftlichen Aktivitäten in der Region stark einschränken würde, was nicht nur wirtschaftliche Konsequenzen für die Bauern, sondern auch für die gesamte Region Murcia hätte. Dieser Interessenskonflikt, populistisch ausgenutzt, verdeutlicht die Schwierigkeit, den Schutz der Natur gegen wirtschaftliche Interessen durchzusetzen.
Der Widerstand gegen das Gesetz zeigt sich nicht nur in der Politik, sondern auch in direktem Aktionismus. Im Januar 2022 stürmten Schweinebauern, angestachelt von durch die rechtspopulistische Opposition, gewaltsam ein Parlamentsplenum in Lorca (70 km entfernt von Murcia), um eine Abstimmung über neue Vorschriften zu verhindern, die Mindestabstände zwischen Wohnhäusern und Schweinemastbetrieben festlegen sollte.5
Trotz dieser heftigen Auseinandersetzungen, der Bevölkerung, mit dem Thema, scheint der Schutz des Mar Menors in der Praxis noch immer eine untergeordnete Rolle zu spielen. Als wir, von der Greensurance-Stiftung (ohne das Flugzeug zu benutzen) vor Ort waren, fiel uns auf, dass kein Hinweis auf die prekäre Lage der Lagune zu finden war. Touristen badeten im Wasser, welches uns als ölig und viel zu warm erschien. Wir kamen zu der Erkenntnis, dass die Touristen nichts von der geschehenen Umweltkatastrophe wissen.
Dieser trügliche »Normal«-zustand, obwohl die Auswirkungen der Katastrophe fühl und erkennbar sind, lässt vermuten, dass die Bedeutung des Problems aus Angst vor negativen Auswirkungen auf den Tourismus heruntergespielt, bzw. verheimlicht wird. Sollte das Mar Menor erneut kippen und tote Fische, wie stinkende Algen, den Tourismus versiegen lassen, ist das ein gewaltiger betriebs-, wie volkswirtschaftlicher Schaden, den Beherbergungsbetriebe, Restaurants sowie die Allgemeinheit zu tragen hat. Die Verursacher werden nicht zur Rechenschaft gezogen. Mit dem neuen Gesetzt ist jedoch die Grundlage geschaffen, diese Situation zu ändern.
Das Mar Menor steht, nicht nur für die Greensurance Stiftung, symbolisch für den globalen Kampf um den Schutz unserer Ökosysteme. Trotz seiner Anerkennung als Rechtssubjekt bleibt die Frage offen, ob die Natur wirklich den gleichen Stellenwert wie der Mensch in unserer Gesellschaft einnehmen kann.
Die Natur als Rechtssubjekt: Eine weltweite Debatte
Trotz der Konflikte rund um den Schutz des Mar Menors, verstärkt durch die Rechtssubjektsetzung, ist die erste europäische Rechtsprechung dieser Art ein Novum, welches das Verständnis von Umweltschutz verändert.
Die offizielle Anerkennung der Lagune als Rechtsperson hat nicht nur in Spanien, sondern weltweit Aufmerksamkeit erregt und stellt einen Präzedenzfall in Europa dar. Das erste Land das die Natur als Rechtssubjekt anerkannt hat, war Ecuador. Auch in diesem Land wird der Kampf der Interessen zwischen der indigenen Bevölkerung, die die Natur schützen wollen, und der globalen Industrie ausgetragen. Im Unterschied zum Mar Menor, konnte in Ecuador der Schutz des Nebelwaldes durchgesetzt werden.
Das Präzedenzfälle wichtig sind und wirken zeigt die aufbauende Rechtsprechung in Deutschland. Am 02.08.2024 wurde in einem Rechtsstreit bezüglich des »Dieselskandals« völlig unerwartet die spanische Rechtsprechung aufgegriffen. Richter Dr. Martin Borowsky benannte in einem Urteil nicht nur den Kläger, sondern auch die Natur, als Rechtssubjekt, also als geschädigte Person.
Das Urteil baut auf Artikel 37 der Grundrechtscharta der Europäischen Union auf, in welchem der Politik der Union ein hohes Umweltschutzniveau als Ziel angezeigt wird. Die Charta, welche als »lebendiges« Rechtsinstrument konzipiert wurde, soll genutzt werden, um auf akute Gefahrenlagen, wie den anthropogenen Treibhauseffekt, zu reagieren, so Borowsky. Der Natur Rechte zu verleihen sei, die notwendige Antwort auf genau diese Gefährdungslagen.
Mar Menor wird im Urteil, LG Erfurt, Urteil vom 02.08.2024 – 8 O 1373/21 als Beispiel für die praktische Umsetzung und Anerkennung ökologischer Rechte verwendet, und stellt somit einen Präzedenzfall in Deutschland dar, welcher die Rechtsprechung in die richtige Richtung lenkt.
Die Besonderheit an diesem Urteil liegt darin, dass in Deutschland die Natur bisher nicht als juristische Person bzw. Träger*in von Rechten anerkannt wurde. Der im Grundgesetz für den Umwelt- und Naturschutz zentrale Artikel 20a wird bisher gemeinhin als lediglich objektive Norm und sog. Staatszielbestimmung aufgefasst, die keine subjektiven Rechte vermittelt und gegen deren Verletzung daher nicht (im Namen der Natur) geklagt werden kann. Ohne das Grundgesetz zu bemühen, hat Borowsky die EU-Charta im deutschen Zivilrecht neu ausgelegt und markiert somit einen bedeutenden Schritt in der Rechtsprechung. Damit ist Borowskys Urteilsverkündung Grundlage für eine neue Umweltjustiz.
Epilog:
Die Debatte zwischen den Interessen der Landwirtschaft und dem Schutz der Natur ist nicht nur ein lokal begrenztes Problem, sondern spiegelt einen globalen Kampf wider, der den Wert und die Rechte unserer Ökosysteme betrifft. Das Beispiel des Mar Menor verdeutlicht, dass der Schutz der Natur nicht nur als eine Frage der Umwelterhaltung, sondern als juristische und ethische Verantwortung betrachtet werden muss.
Das Urteil, dass dem Mar Menor diesen Status verliehen hat, stellt einen bedeutenden Fortschritt im Umweltschutz dar und setzt einen historischen Präzedenzfall, der internationale Wellen schlägt. Der Rechtsstreit im Dieselskandal, in dem nun die Natur ebenfalls als geschädigte Partei anerkannt wurde, untermauert die wachsende Bedeutung des rechtlichen Mittels, unsere Lebensgrundlagen zu erhalten.
Es ist an der Zeit, dass wir als globale Gemeinschaft die Rechte der Natur ernst nehmen und deren Schutz nicht länger hinter wirtschaftlichen Interessen zurückstellen. Die Anerkennung von Ökosystemen als Rechtssubjekte stellt einen bedeutenden Schritt in die richtige Richtung dar und muss als Vorbild für weitere juristische Entwicklungen dienen, um eine Balance zwischen menschlichen Interessen und dem Erhalt unserer Umwelt zu finden.
Autor: Samuel Reichenberg
Den zugehörigen Film zum Blog finden sie unter folgendem Link:
https://youtu.be/1Odbbf3Gv5o?si=Csk2dKNEEjdpCzI0
Greensurance Stiftung strebt Musterklage an
Die Greensurance Stiftung möchte mit einer Musterklage die Rechte der Natur noch besser im Rechtssystem verankern. Hier arbeitet die Greensurance Stiftung mit Partner:innen zusammen, unter anderem mit Greensurance® Für Mensch und Umwelt, die über ihre grüne Rechtsschutzversicherung die Musterklage unterstützt. Der Verein »Netzwerk Rechte der Natur e.V.« und die Greensurance Stiftung sammeln gemeinsam Spenden für die rechtliche Aufarbeitung zur Vorbereitung der Musterklage.
Machen Sie mit!
Zweckgebundene Spenden bitte an die Greensurance Stiftung oder an den Verein Netzwerk Rechte der Natur. Betreff: Musterklage – Rechtssubjekt
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BIC: GENODEF1GAP
VR-Bank Werdenfels
- Factsheet_Mar_Menor_final.pdf (duh.de)
- Mar Menor – Global Assembly
- Gesetzestext Mar Menor übersetzt.pdf (rechte-der-natur.de)
- Toilette Europas: Spaniens Schweinefarmen für massives Fischsterben verantwortlich (wildbeimwild.com)
- Massentierhaltung: Der Zorn der Schweinebauern | WOZ Die Wochenzeitung
- Toilette Europas: Spaniens Schweinefarmen für massives Fischsterben verantwortlich (wildbeimwild.com)
- Mar Menor: Rechtspopulisten erheben Verfassungsklage – Rechte der Natur (rechte-der-natur.de)
- LG Erfurt, Urteil vom 02.08.2024 – 8 O 1373/21 – openJur
- Recht der Natur – Es macht einen Unterschied